Der Dissens zwischen „Falken“ und „Tauben“ verschärft sich. Daraus ergibt sich immer weniger Spielraum für die neue EZB-Chefin Christine Lagarde.
Mit dem Ende der Amtszeit von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) am 31.Oktober 2019 steht die Geld- und Zinspolitik der EZB mehr denn je auf dem Prüfstand. Mit der französischen Juristin und ehemaligen Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, wurde zwar eine kompetente Nachfolgerin gefunden, die Französin hat derzeit allerdings wenig Spielraum und wird vermutlich alle Hände voll zu tun haben, die Homogenität im EZB-Rat aufrechtzuerhalten.
Aufsehenerregender Rücktritt
Die Uneinigkeit zwischen den „Falken“, also den Befürwortern einer restriktiven Geld- und Zinspolitik, und den „Tauben“, die sich für einen gegenteiligen Kurs aussprechen, dürfte in den kommenden Monaten für heftige Diskussionen sorgen. Ein Vorbote dafür war der vor wenigen Tagen angekündigte Rücktritt einer vehementen Kritikerin der lockeren Geldpolitik: Die Deutsche Sabine Lautenschläger wird ihren Posten im sechsköpfigen geschäftsführenden EZB-Direktorium Ende Oktober vorzeitig räumen und drückt damit ihren Unmut über die Mitte September getroffenen EZB-Entscheidungen, nämlich der Senkung des Einlagesatzes von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent, der Wiedereinführung des Anleihekaufprogramms mit 20 Milliarden Euro pro Monat und der Einführung eines Staffelzinssatzes für die Banken, aus. Mit diesem Rücktritt einer Vertreterin der „Falken“ bekommen innerhalb des EZB-Rats die „Tauben“ zahlenmäßig mehr Gewicht, die Basis der „Falken“ wurde geschwächt.
Lagarde behält Draghi-Kurs bei
Angesichts der instabilen wirtschaftlichen Lage in den Problemländern der Eurozone, die die lockere Geld- und Zinspolitik nicht für Reformen nützen, ist der weitere Weg der EZB vorgezeichnet. Wenig überraschend hat Christine Lagarde in ihrer Eröffnungsrede vor dem Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments den bisherigen Kurs der EZB nicht nur als „erfolgreich und wirkungsvoll“ bezeichnet, sondern auch angekündigt, noch expansiver werden zu wollen, sollte es notwendig werden. Weitere Maßnahmen könnten sogar früher als geplant eintreten: Der Brexit sorgt nach wie vor für Unsicherheit. Auch der Handelsstreit zwischen den USA und Europa hat durch das unlängst getroffene Urteil der Welthandelsorganisation WTO, die regelwidrige Subventionen für Airbus bestätigt hat, neuen Zündstoff erhalten. Und über all dem schwebt die anhaltende Schwäche der europäischen Industrie, die die Rezessionstendenzen in Europa wieder verschärft hat.
Japanische Maßnahmen?
Der Erfolgsdruck auf die EZB dürfte in den kommenden Monaten also enorm bleiben. Das Worst Case Szenario wäre sicherlich, dass die bisherigen Maßnahmen nicht fruchten. Dadurch wäre nicht nur die Reputation der EZB in ernsthafter Gefahr, es würde auch bedeuten, dass diese wohl zu extremen Mitteln greifen müsste, um die Märkte überhaupt noch stimulieren oder positiv überraschen zu können. Draghi schaffte dies 2012 inmitten der Schuldenkrise mit den einfachen Worten „Whatever it takes“ und einem gut gefüllten Instrumentenkasten. Dieser ist mittlerweile fast leergeräumt. Christine Lagarde wird daher wohl über neue und womöglich kontroversielle Maßnahmen nachdenken müssen, um die Märkte nachhaltig zu beruhigen und die Wirtschaft zu stabilisieren: Denkbar wäre, dass sich die EZB demnächst am Beispiel der japanischen Notenbank orientieren könnte, etwa durch die Einführung eines Aktienkaufprogramms. Oder aber bestehende Maßnahmen – entgegen bisheriger Verlautbarungen – modifiziert, zum Beispiel durch die Anhebung der selbst auferlegten Obergrenze für das Anleihekaufprogramm von bisher 33 auf 50 Prozent. Wo immer der Weg hinführt: Entscheidend für die Glaubwürdigkeit der EZB wird sein, ob der EZB-Rat wieder mehr Einigkeit signalisiert und weitere Unstimmigkeiten vermieden werden können.