Die Ausgangssituation ist schnell beschrieben: Der Erblasser hat einem seiner Kinder schon zu Lebzeiten ein Geldvermögen zugewendet. Hat dieses Kind nun im Erbfall denselben Pflichtteilsanspruch wie seine Geschwister?
Die Frage lässt sich nicht einheitlich beantworten. Nach dem – etwas antiquierten – Konzept des Erbrechts des ABGB werden nur bestimmte Zuwendungen auf den Pflichtteil angerechnet; sogenannte Vorempfänge und Vorschüsse.
Unter Vorempfängen versteht man Zuwendungen mit einem Vorsorgecharakter. Diese sind abschließend in Paragraf 788 ABGB genannt: Dazu zählen nach dem Gesetzeswortlaut Heiratsgut und Ausstattung, Unterstützungen zu einem unmittelbaren Antritt eines Amtes oder Gewerbes und die Zahlung von Schulden eines volljährigen Kindes. Beschenkt der Erblasser ein Kind zu dessen Hochzeit oder wendet er ihm den Geldbetrag (auch zu einem späteren Zeitpunkt) mit dem Ziel zu, dass dieser das Eheleben oder die Gründung einer Familie erleichtern soll, so ist dieser Geldwert als Heiratsgut bzw Ausstattung zu qualifizieren.
Vom Begriff der Vorempfänge umfasst sind auch alle Zuwendungen, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Berufsausübung des Kindes stehen. Dafür ist es ohne Bedeutung, ob das Kind beim Berufsantritt oder erst später beim Betrieb eines Unternehmens unterstützt wurde. Nach der aktuellen Rechtsprechung soll es auch nicht darauf ankommen, ob der Nachkomme auf die Zuwendungen angewiesen war.
Nicht zur Anrechnungspflicht werden aber Ausbildungs- und Erziehungskosten gezählt, auch wenn die Ausbildung auf eine spätere Berufstätigkeit abzielt. Schließlich sind Zuwendungen, die unmittelbar dazu dienen, dass ein voll geschäftsfähiges – also volljähriges und geistig gesundes – Kind seine Schulden tilgen kann, als Vorempfang zu qualifizieren.
Neben den genannten Vorempfängen sind sogenannte Vorschüsse auf den Pflichtteil anzurechnen. Vorschüsse liegen aber nur dann vor, wenn bei einer Zuwendung vereinbart wird, dass diese auf den Pflichtteil anzurechnen ist.
Voraussetzung ist, dass die Zuwendung ohne rechtliche Verpflichtung – zu denken ist hier insbesondere an die Unterhaltspflicht – gewährt wird. Allenfalls kann die Vereinbarung der Anrechnung auch stillschweigend erfolgen. Eine stillschweigende Vereinbarung liegt dann vor, wenn die Umstände der Zuwendung keinen vernünftigen Zweifel daran lassen, dass eine Anrechnung gewünscht wird. Nicht möglich ist es, eine Zuwendung nachträglich (im Testament) als Vorschuss zu qualifizieren, die Zustimmung des Begünstigten zur Anrechnung muss im Zeitpunkt der Hingabe vorliegen.
Im Erbfall muss sich also der Pflichtteilsberechtigte jene Zuwendungen auf seinen Pflichtteil anrechnen lassen, die in eine der genannten Kategorien fallen. Hat der Erblasser keine letztwillige Verfügung hinterlassen und kommt daher die gesetzliche Erbfolge zur Anwendung, so gilt das eben Gesagte auch für die Anrechnung auf den gesetzlichen Erbteil. Es sollte daher bei jeder größeren Vermögenszuwendung die möglichen Auswirkungen auf das Pflichtteils- und Erbrecht bedacht und gegebenenfalls ausdrücklich geregelt werden, dass das Geschenk auf den Pflichtteil/Erbteil anzurechnen ist.
... promovierte Juristin und Handelswissenschafterin, war zunächst Universitätsassistentin an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist seit 1999 als Rechtsanwältin in Wien tätig. Als Partnerin der Kanzlei Willheim Müller Rechtsanwälte, einer national und international tätigen Wirtschaftsanwaltskanzlei, berät sie bei der Gestaltung, Verwertung, Erhaltung, Weitergabe und Aufteilung privaten Vermögens. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt im Stiftungsrecht. Katharina Müller hält auch regelmäßig Vorträge zu diesen Themen. Sie ist auch Herausgeberin des Journals für Erbrecht und Vermögensweitergabe sowie des 2010 im Springer Verlag erschienenen Handbuchs „Erbrecht und Vermögensnachfolge“.